Ausgabe Nr.
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J M upload 31.05.2022, Viva Edition 188 | Print article

Kanarenregierung sucht dringend Wohnungen, Neues Konzept gegen Gentrifizierung

„My home is my castle“, dieser Spruch bekam für die Menschen während des ersten Lockdowns eine völlig neue Bedeutung, da der Stellenwert eines gemütlichen Eigenheims enorm zugenommen hat. Die Einschränkung der persönlichen Reisefreiheit hat u. a. zu einer Verschiebung der Prioritäten geführt, so dass sich die Immobilienbranche sowie Möbelhäuser einer enormen Nachfrage erfreuen. Viele suchten und suchen nach größeren Eigenheimen, zumindest mit einer entsprechenden Terrasse oder idealerweise mit einem schönen Garten.

Eine Trendumkehr ist zu beobachten, indem einige Städte eine Abwanderung beobachteten und zwar in Richtung Vorstädte oder ländliche Zonen mit viel Platz. Die „Rennaissance der freien Flächen“ ist eingeleitet.

Bei der Wahl der Einrichtungsgegenstände zeigt sich eine neue Tendenz, indem edles, aber unwohnliches Design, zugunsten der Gemütlichkeit weichen muss. Es wird wieder mehr Mut zu Farbe, Stoffen und Formen gezeigt. 

Gentrifizierung Kanaren

Der Wunsch nach einem neuen, geräumigen Eigenheim spiegelt sich auch in der größeren Nachfrage nach adäquaten Immobilien auf den Kanarischen Inseln wieder - siehe unseren Bericht in dieser Ausgabe.

Allerdings hat jede Münze zwei Seiten, denn die Kanarischen Inseln leiden unter einem enormen Wohnungsmangel - trotz Immobilienboom. Dazu haben verschiedene Faktoren geführt, die wir hier kurz umreißen möchten.

Die Bevölkerung hat in den letzten zwanzig Jahren deutlich zugenommen. Waren es im Jahr 2000 etwa 1,6 Mio. EinwohnerInnen, waren es Anfang 2022 knapp 2,2 Millionen. Allerdings handelt es sich nicht um einen natürlichen Zuwachs der Population, denn die Kanaren weisen laut INE die niedrigste Geburtenrate mit 0,90 Kinder je Frau in gebährfähigem Alter auf. Es handelt sich also um eine Kompensation durch die Zuwanderung, oftmals um finanziell zahlungskräftiges Klientel, die ein zweites Domizil im ‚gesündesten Klima der Welt‘ sucht. Die AusländerInnen bevorzugten sonnige Lagen mit Meerblick, meist in den klassischen Touristenhochburgen. Dies führte zu einem sehr hohen Ausländeranteil in einigen Gemeinden, wie beispielsweise in Mogán mit knapp 35 Prozent.

Die Nachfrage ist ungebrochen groß und trieb die Preise in die Höhe. Viele Einheimische können sich diese gestiegenen Immobilien- bzw. Mietpreise nicht leisten. Aufgrund der EU-Randlage muss die kanarische Wirtschaft ohnehin schon kämpfen und globale Probleme sorgen dafür, dass sich die Situation nicht gerade entspannt. Schon vor der Pandemie musste der Archipel Krisen meistern, wie z. B. die Thomas Cook Pleite, die zerplatzte Immobilienblase, die Bankenkrise etc. und zuletzt auch den durch die Pandemie beeinträchtigten Tourismus im Jahr 2020. 

Wermutstropfen: Die Jugendarbeitslosigkeit ist Dank der Regeneration des Tourismus mit Stichtag Januar 2022 auf 6,5 % gesunken, der niedrigste Wert seit 20 Jahren. Ansonsten weisen auf dem Archipel einige Gemeinden die höchsten Arbeitslosenquoten des Landes auf, wie z. B. Santa Lucía und Telde auf Gran Canaria, Arrecife auf Lanzarote und Santa Cruz de Tenerife. (Quelle: INE Instituto Nacional de Estadísticas, Mai 2022).

Baubranche im Verzug

Der Bausektor blieb von all diesen Herausforderungen unberührt - au contraire - die Branche erfreute sich  während der Pandemie einer ungebrochen großen Nachfrage. 

Gebaut wurden in den letzten zwei Dekaden jedoch vornehmlich touristische Beherbergungsbetriebe ‚erster Güte‘ - seien es große Supermärkte, Plätze, Straßen, Schulen, Kulturzentren etc. Im Privatsektor buchten finanzkräftige Eigentümer bzw. -gemeinschaften die Gewerbebetriebe. Sträflich vernachlässigt wurde allerdings der soziale Wohnungsbau, womit sich die Gentrifizierung zuspitzte. In fünf Jahren wurden lediglich 20.000 Wohnungen erbaut! 

Im Jahr 2018 drohten schließlich tausende Familien in die Obdachlosigkeit abzudriften und während der Pandemie mussten viele Menschen ihr Zuhause aufgeben, um, im Idealfall, bei einem Familienmitglied Unterschlupf zu finden. Alleine die Hauptstadt von Gran Canaria verzeichnet derzeit knapp hundert Obdachlose (personas sin hogar).

ASTERIX UND OBELIX ...

Endlich kam zu diesem Thema Bewegung in die Politik. 2018 wurde die Errichtung von 110.000 Wohnungen innerhalb der kommenden fünf Jahre beschlossen, denn, Berechnungen zufolge wird der Wohnungsbedarf bis 2031 auf 140.000 anwachsen. Zwischen Wunsch und Realität klafft die Kluft weit auseinander, da bisher jährlich nur 5.000 errichtet werden konnten - viel zu wenig. Das führte beispielsweise in der Hauptstadt Las Palmas de Gran Canaria zu einem Anstieg der Mietpreise pro Quadratmeter von über 5,5 Prozent jährlich laut Immobilienconsulting Tinsa. Im Register der Regionalregierung sind aktuell 18.000 Wohnungssuchende gemeldet.

Auf der anderen Seite würde die Baubranche gerne mehr bauen, könnte sie theoretisch auch. Allerdings bemängelt die Vereinigung der Bauträger2), dass sie bis zu zwei Jahre auf die Erteilung einer Baulizenz warten müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Preise für die Baustoffe um mehr als 15 Prozent jährlich gestiegen sind und dadurch die prognostizierten Projektkosten einfach nicht eingehalten werden können.

Die Baulizenzen liegen im Verantwortungsbereich der Gemeinden, die wiederum über fehlende Ressourcen jammern bzw. nicht über die erforderlichen, technisch qualifizierten MitarbeiterInnen verfügen, um die Anträge schneller bearbeiten zu können.

Einen negativen Einfluss auf den Mietsektor haben die (teils illegalen) touristischen Vermietungen sowie Airbnb.

Kampf gegen Gentrifizierung: Regierung sucht dringend leerstehende Wohnungen

Nun versucht es die Regionalregierung der Kanarischen Inseln mit einer neuen, innovativen Initiative. Paradoxerweise stehen trotz des enormen Wohnungsmangels auf den Kanaren etwa 700 Privatwohnungen bzw. -häuser leer.4) Die Regierung versucht mit einem lukrativen Angebot, dass den EigentümerInnen eine höchst mögliche Sicherheit bietet, an leerstehende Wohnungen zu gelangen. Dadurch soll etwa 9.000 einkommensschwachen Familien ein dringend benötigtes Zuhause geboten werden können.

Auf der anderen Seite bietet die Behörde den WohnungseigentümerInnen eine garantierte Mietzinszahlung, sofern diese ihr Objekt für einen Zeitraum von sieben Jahren überlassen. Verwaltet und operativ abgewickelt wird dieses „Programa de vivienda vacía de Canarias“ von der Firma Visocan.

Wie sieht dieses Programm aus?

Die Behörde bezuschusst die Wohnungen für die Suchenden. Gleichzeitig garantiert sie EigentümerInnen die Zahlung des Mietzinses in der vereinbarten Höhe für den vereinbarten Zeitraum von sieben Jahren! Gesetzlich bezieht es sich auf das Dekret 24/2020 vom 23. Dezember „Außerordentliche und dringende Maßnahmen im Bereich Wohnungsbau, Verkehr und Häfen in der Autonomieregion der Kanarischen Inseln.“

Visocan - Ablauf

Mietzinsgarantie: Eigentümer überlassen Visocan die Nutzung ihres leerstehenden Objekts für eine festgelegte Dauer von sieben Jahren. Dafür übernimmt Visocan die komplette Abwicklung des Mietvertrags gegenüber den MietnehmerInnen sowie die Verwaltungskoordination und haftet gegenüber den EigentümerInnen für die monatlichen Zahlungen des in diesem Vertrag festgelegten Mietzinses und für die darin definierte Dauer. Ergo: Kein Mietzinsausfall!

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Verweise

1)Viva Canarias Nr. 185 vom 2.3.2022 „Bevölkerung leicht zurückgegangen, die neuen Zahlen“ 

2)FEPECO Federación de Constructores 

3)FECAM Federación Canaria de Municipios

4)ISTAC Statistikamt Kanaren und Gobierno de Canarias