Ausgabe Nr.
Ausgabe Nr.
J M upload 03.03.2023, Viva Edition 197 | Print article

Roque Bentayga: Der heilige Berg der Altkanarier

Blick auf den Roque Bentayga - im Hintergrund: Teide der Nachbarinsel Teneriffa

Die Natur entfaltete sich Jahrmillionen auf den Inseln des ewigen Frühlings ohne den Faktor Mensch. Erst vor etwa 1.700 Jahren wurde der Archipel mit mehreren Besiedelungswellen, vermutlich größtenteils Berber aus Nordafrika, bevölkert. Und da sie keine Schifffahrt betrieben kam es auch zwischen den einzelnen Eilanden zu keiner Interaktion und genetischer Durchmischung. Während die anderen Inseln sehr dünn besiedelt blieben, erreichte die Bevölkerung auf Gran Canaria gemäß Schätzungen der Archäologen1) zwischen dem 12. und 14. Jhdt. seine größte Ausdehnung. Die Einwohnerzahl lag bei bis zu 60.000. Davon zeugen etliche archäologische Funde, die im wissenschaftlichen Kontext zueinander interpretiert, peu à peu die Rätseln der damaligen Kultur zu lüften versuchen.

Erschwert wird dies dadurch, dass es keine schriftlichen Überlieferungen der Canarios, wie die Ethnie der originären Bevölkerung auf Gran Canaria korrekterweise bezeichnet wird (siehe Kasten), gibt. Viele Geheimnisse ihrer Kultur gingen verloren, nicht zuletzt nach der endgültigen Eroberung durch die kastilische Krone im Jahr 1483.

Das führte zu einem starken Rückgang der originären Bevölkerung auf ein klägliches Minimum von geschätzten 5.000 Menschen. Jene, die nicht in die Sklaverei verkauft wurden oder bei den erbitterten Widerstandskämpfen6) gegen die Eroberer nicht ihren Tod fanden, konnten friedlich und sicher im Reservoir am ‚heiligen Bergmassiv‘ von Tamadaba leben - zumindest für den vereinbarten Zeitraum von dreißig Jahren.

Goldgräberstimmung unter den Archäologen

Nach der prähispanischen Phase setzten neue Besiedelungswellen ein, vornehmlich von der iberischen Halbinsel, und dies führte zu einer Assimilation der indigenen Völker. Ihre Kultur ging beinahe gänzlich verloren, ebenso wie ihre Bräuche, Riten, Sprache und, nicht zuletzt, Gene. Aufgrund dieser Völkervermischung gibt es heute keine, gentechnisch betrachtet, ‚reinrassigen‘ AltkanarierInnen.

Dies spielte in den darauffolgenden Jahrhunderten keine Rolle bis kurz nach dem Tod des Franco Regimes im Jahr 1976. Auf den Kanaren begann man sich seiner Wurzeln zu besinnen und immer mehr archäologische Funde förderten die Neugier, mehr über die Vorfahren zu erfahren. In den letzten beiden Dekaden wurden entsprechende Geldmittel locker gemacht und von der Inselregierung mittels der Behörde Gran Canaria Patrimonio Historico institutionalisiert.

Die natürliche Festung La Fortaleza

Regelmäßig sorgen Sensationsfunde für reges Medieninteresse und befeuern die Goldgräberstimmung2) der Archäologen. Denken wir an die natürliche Festung von La Fortaleza4), eine der bedeutendsten Archäologiestätten, die in den letzten zehn Jahren freigelegt wurden. Am Fuß dieses beeindruckenden natürlichen Felsmassivs wurde eine der größten, originären Steinsiedlungen entdeckt. Ein wunderbar aufbereitetes Interpretationszentrum, das regelmäßig Sonderausstellungen aus den Ergebnissen der Ausgrabungen zeigt, befindet sich nur 500 Meter entfernt und wurde maßstabsgetreu der drei Felsformationen angelegt.

Dort können Sie im kleinen Vorführungsraum einen etwa 15-minütigen Film sehen, der die AltkanarierInnen, ihre Kultur und Alltagsleben wunderbar veranschaulicht und sogar in der Originalsprache der indigenen Bevölkerung (deutsch untertitelt).

Der ‚heilige Berg‘ ruft

Den Monolithen Roque Bentayga als das Machu Pichu von Gran Canaria zu bezeichnen, wäre vermessen. Aber, dieser erhabene Fels, hoch über der Caldera de Tejea auf einer Höhe von 1.414 Metern, dominiert mit seiner imposanten Erscheinung die Umgebung. Besonders vom gegenüber liegenden Bergdorf Tejeda aus, bietet sich ein königlicher Anblick auf das „versteinerte Gebirge“.

Über den Ursprung des Namens existieren verschiedene Hypothesen. Eine davon könnte sich von ‚ben‘ aus dem Altkanarsichen ableiten und als ‚Ort des Bestehens‘ umschrieben werden. Für sie hatte die kosmologische Konstellation der Sterne eine tiefe religiöse Bedeutung und glaubten dort befände sich eine ‚axis mundi‘. Eine andere Interpretation sieht eine Verbindung zu den Worten ‚bent‘, also Berg und ‚micénica aiga‘ von heilig.

Dieser einstige ‚heilige Berg der Urbevölkerung‘ ist heute eine archäologische Zone, bestehend aus den Formationen Roque Bentayga (Kultstätte), Roque de Cuevas del Rey (Wohnzwecke) und Roque Narcies, die als geografische und kulturelle Einheit Sierra del Bentayga zum Kulturgut erklärt wurde. Es ist ein herausragendes Beispiel einer Troglodyten-Siedlung eines einfachen, in Höhlen bzw. unterirdischen Wohnungen lebenden Volks, wo die teils künstlich angelegten „Cuevas“ verschiedenen Zwecken dienten (Wohn- und Schlafstätten, Silos, Tierställe und Bestattungshöhlen).

Der Sockel des Monolithen war von einer Steinmauer umgeben, welche nach Ansicht der Archäologen die heilige Zone abgrenzen sollte, aber auch als Verteidigungsbastion geeignet war. Gemäß Chroniken soll es am Roque Bentayga zu Widerstandskämpfen gegen die kastilischen Truppen gekommen sein, die mit ihren schweren Rüstungen im steilen, unwegsamen Gebiet lange Zeit mit ihren Eroberungskämpfen erfolglos waren. Das war auch einer der Gründe, weshalb die Unterwerfung von Gran Canaria viel Zeit in Anspruch nahm und mehrmals scheiterte.

Am Fuße des Monolithen befindet sich eine quadratische Struktur (Almogarén de Bentayga), die in den felsigen Boden gegraben wurde und wo einzelne runde Schalen mit Kanälen miteinander verbunden wurden (siehe Foto 05).. Es wird vermutet, dass dies den Riten für Opfergaben oder Trankopfer diente, beispielsweise für den Regen- oder Fruchtbarkeitsgott - die wohl wichtigsten seiner Zeit. Zwei Gravuren deuten auf alphabetische Zeichen der Libyco-Berber hin, ist aber wissenschaftlich noch nicht eindeutig bestätigt.

Auf den Spuren der Vergangenheit

Ein Ausflug zum Roque Bentaya, inmitten des Naturschutzgebiets Parque Rural del Nublo, lohnt sich immer. Es ist ein ideales Ausflugsziel, das mit einem Mix aus Geschichte, Archäologie und Wandern beliebig gestaltet werden kann. Nach den vielen Regenfällen der letzten Wochen erstrahlt die Landschaft von Gran Canaria in üppigem Grün und belohnt Sie auf der ganzen Fahrt mit herrlichen Aus- und Fernblicken.

Von Maspalomas ausgehend führt die Strecke nordwärts, durch das Tal von Fataga, hoch zum zauberhaften Bergstädtchen Tunte und von dort weiter in Richtung Tejeda auf GC40. Die Serpentinen schlängeln sich entlang der Berghänge bis direkt zum Roque Bentayga, dessen Hinweisschild nicht zu übersehen ist. Nach nur wenigen Minuten endet die Tour am Parkplatz am Fuße des ‚heiligen Bergs‘ - Aussichtsplattform. Nur dann und wann durchdringen Geräusche der umliegenden Zivilisation sowie der Natur die herrliche Stille, wie beispielsweise kreisende Vögel oder aus der Ferne gackernde Hühner oder Hundegebell.

Aufwärmen im Informationszentrum

Ein überschaubares Besucherzentrum (Centro de Interpretation) bietet einen Einblick der indigenen Kultur und zeigt archäologische Funde. Auch Waffenfragmente aus Metall, die von den Eroberern stammten, sind zu sehen.

Beim Interpretationszentrum beginnt auch der Aufstieg zum Roque Bentayga, der sich als Trampelweg rund um diesen riesigen Monolithen zieht. Dafür sollten sie trittsicher sein und festes Schuhwerk ist aufgrund des losen Felsuntergrund jedenfalls empfohlen. Der Aufstieg zur Plattform nimmt etwa dreißig Minuten in Anspruch und bietet wunderbare Ausblicke. Nur das allerletzte Stück hoch zum „Kultplatz“ ist etwas steiler, dafür mit Stufen und Halteseilen versehen.

360° Glückseligkeit

Am Ziel dieser einstigen Sakralzone angekommen, überkommt sie ein Gefühl der Glückseligkeit und ob dieses Gefühl sich durch die Nähe zum Himmel einstellt oder sich als vermeintlicher Kraftplatz ausbreitet, werden wir empirisch wohl nicht ergründen können. Manchmal reicht es einfach aus, die Natur zu genießen ohne alles zu hinterfragen. Der Panoramablick auf die Umgebung ist sensationell (siehe Foto 06).

Auf dieser Höhe füllen sich unsere Lungen mit frischer Luft und intensivieren unsere Sensoren und unseren Appetit. Wohlverdient ist es ein idealer Platz, um sich ein kleines Picknick zu gönnen. Natürlich verlassen wir den Platz wieder so, wie wir ihn angetroffen haben und nehmen allfälligen Müll mit!

An einer Ecke thront ein Fels mit einer Höhle und wirkt, als schwebe sie frei. Es erfordert Mut diese zu betreten und wer nicht schwindelfrei ist, wird es ohnehin nicht wagen.

Vollgetankt mit positiver Energie können sie nun ihren Rückweg antreten, oder, einen Abstecher ins nahe gelegene, pittoreske Bergstädtchen Tejeda machen. Ein weiterer Tipp!

Julija Major

____________________________________

Verweise

1)Viva Canarias Nr. Das versunkene Reich der Altkanarier, Teil 1 - hinter den Kulissen des Archäologieparks von Gáldar

2)Viva Canarias Nr. 168 vom 1.10.2020: Roque Bentayga. Kultstätte der Altkanarier

3)Viva Canarias Nr. 122 vom 12.8.2018 „Landschaftspark del Nublo, der größte Naturpark auf Gran Canaria

4)Viva Canarias Nr. 92 vom 1.3.2019: La Fortaleza, Neueröffnung der Festung der Altkanarier

5)Viva Canarias Nr. 167: Die verlorene Zeit: Sonderausstellung in La Fortaleza

6)Viva Canarias Nr. Nr. 141 vom 10.8.2018: Doramas, Widerstandskämpfer mit der breiten Nase

7)Viva Canarias Nr. 80 vom 3.7.2015: Roque Bentayga, heilige Stätte am Dach der Insel

____________________________________

Bildunterschriften (c)Viva Canarias Archivfotos

Foto 01: Start des Weges hoch zum Roque Bentayga

Foto 02: Blick auf den Roque Bentayga von Tejeda aus

Foto 03: Letztes und steilstes Stück zum Plateau am Roque Bentayga